Unser Projekt

Unser Projekt

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„Ein Weg entsteht, wenn mensch ihn geht.“

Buddha bei die Fische…


Die ersten Hinweise für die Domestizierung des Pferdes lassen sich ca. 3000 v.Chr. finden. Das war dann für die nächsten 5000 Jahre die schnellste Fortbewegungsmethode zu Lande, bis im Jahr 1886 Daimler das erste Automobil baute. Nur 80 Jahre später war es der Menschheit gelungen, auf dem Mond zu landen.

Mobilität heute ist eines der verschwenderischsten Luxusgüter, die wir in Europa haben. Strecken, die noch vor drei Generationen in Tagesetappen gezählt worden wären, sind heute Pendler*innen kaum einen zweiten Gedanken wert. Zu einem Heimspiel des VfB Stuttgarts zu fahren dauert heute von Mössingen aus kaum länger, als das Spiel selbst; wäre aber damals ein mehrtägiger Ausflug.
Aber nicht für alle ist Mobilität gleichermaßen zugänglich. Für manche Menschen in unserer heutigen Gesellschaft ist selbst eine kurze Zugreise keine Selbstverständlichkeit. Für einen Menschen mit Behinderung ergeben sich aus einem Besuch bei einem Spiel des VfB’s viele Fragen: Funktionieren alle Aufzüge? Kann ich in die Bahn einsteigen? Befinden sich auf dem Weg Treppen? Finde ich einen Platz im vollen Zug? Fragen, die sich viele so niemals in ihrer Mobilität stellen würden. Für die meisten ist ein Fahrrad einfach ein umweltfreundliches Fortbewegungsmittel. Für Menschen, die auf Hilfsmittel in der Fortbewegung angewiesen sind, werden es Konkurrenten um einen Platz im Zug.

Uns Mitteleuropäer*innen ist häufig nicht klar, dass eine schnelle, flexible Mobilität nicht etwa grundsätzlich ist, sondern Luxus. Wann dachte mensch schon das letzte Mal, dass 50 Kilometer eine lange Strecke seien? Eine einfache Stufe, gedankenlos übersprungen, kann für einen Menschen mit Behinderung schon eine Mauer sein. Der Besuch eines Freundes im ersten Stock ist schlicht unmöglich und die angesagte Diskothek könnte statt in der Innenstadt genauso gut in Alaska liegen: Eben außer Reichweite. Für Menschen mit Behinderungen, die in ihrer Mobilität einschränken werden, sind schon einfache Ausflüge und schnelle Besuche ein riesiger Planungsaufwand.

Mobilität ist ein grundlegender Bestandteil unseres heutigen Lebens. Es gehört zu den Dingen, die uns erst als vollständige Menschen fühlen lässt. 

“Es tut uns leid, Sie zu dieser späten Stunde zu stören, Mrs. Twice, wir wären ja früher gekommen, aber da war Ihr Mann noch nicht tot” – Leslie Nielsen, Police Squad

Einer der zentralen Ideen in der Inklusion ist, dass Menschen nicht durch ihre Behinderung eingeschränkt werden, sondern von den gesellschaftlich errichteten und geduldeten Barrieren. Im ersten Moment mag diese Aussage unsinnig erscheinen, bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch die Bedeutung der Aussage. Nicht unbedingt eine Stufe in den Zug ist das Hindernis, sondern vielmehr die Ungeduld des Zugbegleiters. Dieser hat es nämlich eilig. Eilige Leute eiligst zum Ziel zu bringen. Das Opfer hierfür muss dann ein Mensch tragen, für den die Stufen in den Zug keine Banalität sind, sondern eine Mauer, die er nur mit Aufwand zwingen kann. Aber muss es immer so schnell gehen? Ist es denn so eine Bürde für die heutige Gesellschaft kurz einen Moment innezuhalten, um es allen zu ermöglichen, teilzunehmen? Und kommt die Deutsche Bahn sowieso nicht immer zu spät?

Mein kleiner Bruder, der Oliver, war nach einem schweren Unfall früh in seinem Leben teilweise gelähmt. Das hat natürlich mich und meine Schwestern geprägt. Dabei sind einem viele Dinge erst später und manche Dinge zu spät klargeworden. Erst nachdem Oliver nach einer langen Leidenszeit an den Spätfolgen des Autounfalls gestorben ist, wurde mir die Bedeutung von Inklusion wirklich bewusst. Für mich war Oliver niemals ein “Behinderter”, der “Mitleid” verdiente, sondern ein Bruder, den man manchmal zwar hasste, mit dem man zwar manchmal stritt, dem man manchmal Dinge nicht gönnen mochte, der aber auch immer ein geliebter Teil der Familie war. Ein Freund, ein Bruder und vor allen Dingen: Ein Mensch. Ein Mensch, der es genauso verdient hatte, glücklich zu sein, Spaß zu haben und ein “normales” Leben zu führen. Hier möchte ich das bereits in Anführungszeichen gesetzte “Normal” bewusst als Provokation verstanden haben. Wir befinden uns gerade in einer spannenden Zeit, in der von vielen Seiten das “Normale” infrage gestellt wird. Was ist schon eine “normale” Familie? Was ist denn bitte eine “normaler” Konsum oder eine “normale” Herkunft? Wie sieht denn ein “normales” Leben aus?

Für manche Menschen ist Normal ein Luxus. 

„Ich möchte Leuchtturm sein
in Nacht und Wind

für Dorsch und Stint,
für jedes Boot

und bin doch selbst
ein Schiff in Not!“

-Wolfgang Borchert

Aber so muss das nicht sein. Selbst die höchsten Mauern und die tiefsten Gräben lassen sich überwinden und noch nie hat eine Barriere lange standgehalten, wo es Menschen gab, die sie einreißen wollten. Was fehlt, ist häufig das Bewusstsein für Probleme, denn wie soll der Wille Probleme lösen, von denen er nicht weiß, dass es sie gibt. Inklusion darf nicht nur die Angst davor sein, einmal selber betroffen zu sein, sondern muss von dem Willen geleitet werden, ein besseres Leben für alle Menschen zu ermöglichen.
Nun ist freilich nicht jedes Problem einfach zu erkennen. Den meisten fehlt einfach das Verständnis für die alltäglichen Mühen. Ich habe drei Jahre bei der Flaschenpost gearbeitet. Das ist praktisch wie ein Pizzalieferdienst, nur dass mensch Getränkekisten statt Pizza geliefert bekommt. Und irgendwann dabei ist mir aufgefallen, dass ich, wenn ich die Getränke auf einen Sackkarren geladen habe, um sie zu dem Lieferort zu bringen, mich auf einmal wie ein Mensch mit Behinderung bewegte. Eine Stufe konnte mit der schwer beladenen Sackkarre nicht einfach gedankenlos übersprungen werden, sondern ich musste dafür anhalten, mich umdrehen und die Sackkarre rückwärts hochziehen. Wenn ich durch eine Tür mochte,…Ja! Eine Tür verdammt! Dann musste ich mich irgendwie rückwärts gegen sie reindrücken, die Sackkarre hinter mir herziehen und irgendwie den Grat in der Tür überwinden. Auf einmal waren kleinste, unbescholtene Dinge Hindernisse. Häufig habe ich mir in solche Situationen gedacht: Wenn ich jetzt in meiner Mobilität so eingeschränkt wäre, dass ich dauerhaft einen Rollstuhl bräuchte, wäre ich in diesem Augenblick nicht an mein Ziel gekommen. Und ebenso häufig habe ich mir die Frage gestellt, ob es denn einen wirklichen Grund für dieses Hindernis gab. Und auf einmal war die Welt voller vermeidbarer Stufen.

“Wer anderen einen Wege wegt, hat ein Wege Weggerät” -Sokratis

Wer sich bis hierhin nur wenig mit Inklusion beschäftigt hat, mag sich vielleicht fragen, wieso ich hier ständig von “Menschen mit Behinderung” schreibe. Reicht “Behinderter” nicht aus?
Wenn mensch in Deutschland jemenschen kennenlernt, wird nach dem Namen meistens die Frage gestellt: “Was machst du?” Darauf antwortet mensch wohl besser nicht mit “Rumstehen und blöde Fragen beantworten”, sondern mit dem Beruf den mensch zurzeit ausführt. Es wird praktisch nach dem Stand gefragt. Es wird gefragt, um ein Label aufzudrucken. Ist mensch im respektablen Handwerk tätig? Hat dieser Mensch studiert, oder stehe ich, Gott bewahre, dass mir so eine Ehre zuteil wird, etwa vor jemenschen mit einem Doktortitel? Oder ist dieser Mensch nur ein*e Regalaufüller*in, ein*e Sozialpfleger*in oder ein*e Kellner*in?


Und mit den Labels kommen die Klischees und Vorurteile, denn Menschen sind Schubladentiere. Das Gehirn sortiert und merkt sich Kategorien. Nicht über harte Fakten, die in einer Festplatte darauf warten, genauso wiedergegeben zu werden, wie sie einst reingebrannt wurden. Aber Assoziationen lassen sich brechen, genauso wie sich auch die Socken- und die Unterhosen in Schublade tauschen lassen.
Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch das Gefühl kennt, von einer Gruppe nur als ein Label wahrgenommen zu werden; auf die eine oder andere Art. Sei es wegen des Berufes oder wegen der Herkunft oder der Kleidung. Ich habe mich nie sehr darum gekümmert. Ich bin nicht “Deutscher” oder “Heterosexueller” oder “Weißer.” Ich bin der Albrecht, ich komme aus Deutschland, ich präferiere bei der Partnerwahl Frauen und meine Haut ist weiß. Das sind Eigenschaften, die ich besitze, aber sie definieren mich nicht als Mensch. Denn Deutsch, Hetero und Mann machen keinen Menschen zu Albrecht. Das sind nur Kategorien, die mich aber nicht definieren. Genauso wie eine Behinderung einen Mensch nicht definiert.

Der Mensch soll im Vordergrund stehen, nicht die Behinderung. Der Mensch, nicht die Gruppe, die er sich zuteilen lässt. Einfach nur der Mensch. 

“Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir sind” -Fresh Dumbledore, Rapbattle gegen Grindelwald

Niemensch aus unserer Gruppe arbeitet in der Pflege. Die meiste Pflegeerfahrung, die wir haben, haben wir auf der Freizeit gemacht, auf der auch die meisten von uns Tobias kennengelernt haben. Das Bemerkenswerteste auf diesen Freizeiten für Kinder und Jugendliche mit Behinderung war für mich der erstaunliche Pragmatismus, mit dem Menschen mit Behinderungen die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird. Es wird nicht diskutiert, ob etwas geht, sondern wie es geht. Wir gehen im See schwimmen und wir gehen in Discotheken, wir gehen ins Museum und einmal waren wir sogar beim Paragleiten. Aber es war ja noch nie wichtig, was mensch macht, sondern mit wem mensch es macht.
Diese Freizeiten sind der Beweis, dass eine inklusive Gesellschaft mit der richtigen Einstellung möglich ist und dass dafür keine Opfer vonnöten sind. Im Gegenteil! Dass es das Leben schöner macht, wenn alle Menschen mitmachen dürfen, wenn alle Menschen teilhaben dürfen. Das Wichtigste ist die Überzeugung, dass eine gleiche und faire Gesellschaft für alle das Leben besser macht.

Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft zuzulassen ist keine Schwäche. Mensch schaue sich mal bloß die Natur an: Hunde und Katzen sind mit einem Jahr ausgewachsen. Kühe, Pferde und Giraffen können bei der Geburt schon laufen. Wie sieht das beim Menschen aus? Ab welchem Alter würde mensch es einem Kind zutrauen, ohne Hilfe zu überleben? Vielleicht ein, zwei Tage im Alter von fünf? Mehrere Wochen, mit 8 Jahren? Dauerhaft ab 12? Wir Menschen brauchen so lange, bis wir in der Lage sind, auf uns selbst acht zugeben. Das ist aber keine Schwäche. Dadurch, dass wir unseren Nachwuchs so lange betreuen müssen, sind wir gezwungen worden, komplexe Gesellschaftsstrukturen auszubilden, was die Menschheit zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Gegenseitiger Schutz und das Belehren, das aufeinander Aufpassen und Helfen sind keine menschlichen Schwächen, es ist unsere Überlebensstrategie. 

“Wenn du dich mit dem Weg einlässt, verändert sich nicht der Weg, der Weg verändert dich” – aus 8mm


Einer der Reize des Jakobsweges ist es, sich der Distanz und der Mühe klar zu werden, die eine Reise über mehrere hundert Kilometer bedeuten können. Eine zweiwöchige Pilger*innenreise wären wohl kaum drei Stunden mit einem Auto. Und dennoch ist eine  Pilger*innenreise eine Überwindung, ein ewiger Kampf gegen Blasen, gegen wunde Füße und gegen müde Muskeln. Es geht also nicht nur um den Besuch der sterblichen Überreste eines der Apostel, Jakob des Älteren, sondern auch um den Weg und die beinahe meditativen Wirkung, die eine körperliche Grenzerfahrung entfalten kann. Dazu noch einen Mensch in einem Rollstuhl mitzunehmen, scheint die ganze Reise noch deutlich schwerer zu machen. Früh im Projekt habe ich meine Mitreisenden versucht über die “Trials and Tribulations,” wie der Engländer sagt, aufzuklären. Wir werden nicht abends einfach müde ins Bett fallen können, wir müssen Tobias noch beim Duschen, beim Essen und beim Ins-Bettgehen assistieren. Wir werden wohl jeden Morgen 1 ½h mit der Assistenz beschäftigt sein, zusätzlich zu den Belastungen des Jakobsweges. Das wird auch mental eine Belastung, und davor macht mensch sich im Vorfeld Sorgen und hat Ängste. Aber schon Kästner wusste, dass jemensch ohne Angst auch keine Phantasie hat. Uns ist nämlich klar, dass die Reise auf dem Jakobsweg ein schönes und unvergessbares Erlebnis wird. Mit allen Menschen, die mitkommen. Und Tobias wird nicht mitgenommen, sondern er ist ebenfalls ein Mitreisender.    

“ Wer mit Wegen wegt, sehe zu, darüber nicht selbst zum Weg zu wegen. Und wenn du lange in einen Weg wegst, wegt der Weg auch in dich hinein” -Nietzsche

Unser Projekt soll sich als Gegenbeweis für alle Zweifel an der inklusiven Gesellschaft verstehen. Menschen lassen sich nicht in schwach und stark aufteilen, eher am Grad ihrer Eignung für die aktuellen Vorstellungen von Idealen in der Gesellschaft. Und diese Vorstellungen wollen wir infrage stellen. Wir wollen zeigen, dass auch schwere Projekte für Menschen mit Behinderung machbar sind, wenn wir als Allgemeinheit bereit sind, alle Menschen zu akzeptieren, wie sie sind. Und nicht immer nur die Schwächen oder die aufkommenden Probleme sehen, sondern den Menschen in den Vordergrund stellen.
So, wie wir es auf dem Jakobsweg machen werden.


“Ich liebe den Geruch von frischen Wegen am morgen, es riecht irgendwie nach… Weg”

-Apocalypse Now

Albrecht (bekannt aus From Dusk Till Down)

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